Angst ist der größte Feind des Fortschritts
Die Angst hat viele Gesichter. Mal maskiert sie sich als Phobie, also als konkrete Angst vor bestimmten Situationen, Dingen, Tieren oder gar Menschen. Typische Beispiele sind: Flugangst (Aerophobie), Höhenangst (Akrophobie), Angst vor Spinnen (Arachnophobie) oder die Angst, in sozialen Situationen negativ bewertet zu werden (Soziale Phobie). In anderen Fällen liegen komplexe und/oder generalisierte Angst- bzw. Panikstörungen vor, welche die Betroffenen nicht nur daran hindern, ihre Ziele zu erreichen, sondern oftmals sogar ein geregeltes Leben verunmöglichen.
Durch den gleichen neurobiologischen Mechanismus, durch den Pawlow seinen Hunden beigebracht hatte, nach einem Glockenton (Reiz) zu sabbern (Reaktion), kann ein Mensch durch die Darbietung eines Reizes lernen, mit Angst oder sogar Panik zu reagieren. Wir sprechen dabei von Konditionierung - dem Erlernen von Reiz-Reaktions-Mustern.
Prinzipiell gibt es drei Möglichkeiten, wie ein Reiz zum Auslöser für eine Angst- oder Panikreaktion werden kann:
1) Der Reiz muss oft genug in Kombination mit dem jeweiligen Gefühl dargeboten werden.
2) Der Reiz tritt einmalig in Verbindung mit einer emotional stark aufgeladenen Angstreaktion auf.
3) Die Angst ist ein Ausdruck eines inneren Konflikts, der gelöst werden will.

Beim Erlernen wie auch beim Verlernen einer Angstreaktion liegt der Schlüssel in der neuronalen Umbaufähigkeit unseres Hirns. Fachleute sprechen dabei von Neuroplastizität. Weil die Erinnerung bzw. die bloße Vorstellung an eine Situation die gleichen Hirnstrukturen aktiviert, die in der real erlebten Situation aktiviert wurden, ist es in einer therapeutischen Sitzung möglich, unverarbeitete Anteile erneut wachzurufen und ihren emotionalen Gehalt zu verändern. ,,Neurons wire together if they fire together“, reimte der kanadische Psychobiologe Donald Hebb. Im Deutschen würden wir sagen: ,,Nervenzellen, die gemeinsam feuern, verdrahten sich...“ Nichts anderes geschieht in unserem Oberstübchen beim emotionalen Umlernprozess: Nervenzellen gehen durch Kaskaden biochemischer Reaktionen neue synaptische Verschaltungen ein. Insofern ist es möglich, selbst tief sitzende und langjährig bestehende Ängste wieder zu löschen.

Im Grunde jedoch ist unsere Angst wie ein Freund, der uns beschützen will. Wir wollen die Angst also nicht in all ihren Zügen verteufeln. Immerhin haben unsere Ur-Ur-Ur-Ur-Väter durch ihre Ängste und Sorgen am ehesten überleben können. Die Gegend dreimal nach potenziellen Gefahren zu durchkämmen, war zwar in den allermeisten Fällen nicht nötig - ein Mal wäre völlig ausreichend gewesen. Doch eine solche Fahrlässigkeit hätte einem damals gegebenenfalls auch den Kopf kosten können. Aus diesem Grund spielten die Urmenschen lieber auf Nummer sicher, denn immerhin wollte niemand einen Kopf kürzer gemacht werden.
Die gute Nachricht: Was damals aus evolutionspsychologischer Perspektive eine sinnvolle Strategie war, ist es für uns heute nicht mehr. Wir brauchen keine Angst mehr haben, dass uns bei Nacht Feinde überfallen, unsere Vorräte nicht ausreichen oder wilde Tiere Jagd auf uns machen. Natürlich gibt es auch heute noch reale Gefahren, aber die sind mit denen von damals kaum mehr zu vergleichen. Die Zeiten haben sich geändert. Das hat nur unser Freund namens Angst noch nicht so ganz kapiert und will uns selbst vor prinzipiell ungefährlichen Dingen beschützen.

Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe erhöhte die Überlebenschancen des Urmenschen drastisch, was sie für ihn letztlich so erstrebenswert machte. Auf sich allein gestellt zu sein war damals hingegen einem Todesurteil ähnlich, weswegen der Mensch auch heute noch so bestrebt ist, einen Rausschmiss aus der Gruppe um jeden Preis zu vermeiden. Das ist unsere größte Angst: abgelehnt zu werden und plötzlich allein dazustehen. Deshalb steht öffentliches Reden bei Umfragen über Ängste auch häufig auf Platz eins. Denn bei einer öffentlichen Rede machen wir uns angreifbar gegenüber sozialer Ablehnung. Aber wird unser Leben dadurch bedroht?
Nein! Und es wird höchste Eisenbahn, dass wir das auch unserer Angst klarmachen.
Unser im Grunde so behütender Freund gerät ja schon in Alarmbereitschaft, wenn wir uns mit ungewohnten oder neuen Situationen konfrontiert sehen, weil er glaubt, in allem was neu ist, stecken potenzielle Gefahren. Schon beim Verlassen unserer Komfortzone wird unsere Angst hellhörig. Um als Persönlichkeit zu wachsen, ist es jedoch absolut notwendig, unsere Komfortzone zu verlassen. Das muss auch unsere Angst endlich zu verstehen lernen!
Es wäre also ein Jammer, wenn wir uns durch irrationale Ängste dauerhaft lähmen und daran hindern lassen, der Mensch zu sein, der wir im Herzen sein wollen. Es ist Zeit, mit unserer Angst Freundschaft zu schließen.
