Kann man immer allen alles recht machen?
Natürlich nicht! Das wissen wir alle. Wie oft haben wir alle diese Erfahrung schon gemacht? Und: Warum versuchen wir immer wieder, es allen recht zu machen?
Darüber haben mein Freund John und ich nun schon mindestens eine halbe Stunde lang diskutiert.
Ich erzähle von meiner Zeit als "klassischer" Psychoanalytiker - als Patienten (mit Folgeschäden ihres Anspruchs, allen anderen alles recht machen zu müssen) einen beträchtlichen Teil meines Klientels ausmachten.
"Und, ,,, wieviel Prozent von denen hast Du helfen können?", fragt John.
Ich schweige jetzt lieber.
"Siehst Du, auch Du kannst und konntest es nicht allen recht machen! Schade, Du solltest jetzt Dein Gesicht sehen können!"
"Aber John, das waren ganz andere Zeiten! Bis zu dreihundert Sitzungen mit Psychoanalyse und nichts ändert sich! Darüber bin ich doch wirklich hinaus! Wenn sich nach spätestens der dritten Sitzung noch nichts geändert hat, dann stimmt es zwischen dem Klienten und mir einfach nicht! Dann schicke ich diese Klienten lieber zu Dir......" versuche ich, von mir und meinen gekränkten Eitelkeiten abzulenken.
"Ich hatte neulich wieder einmal so einen Fall", beginnt John ...
Wir sitzen in unserem Lieblingscafe, Johns Fahrrad ist draußen an einen Zaun angekettet. Ich habe es gut im Blick. John soll nicht wieder, wie schon so oft, im entscheidenden Moment, wenn ich auf eine wirklich wichtige Antwort warte, einfach so verschwinden. Er rührt, scheinbar gedankenverloren, in seiner Kaffeetasse herum. Ich weiß, dass er seinen Kaffee ohne Milch oder Zucker nimmt. Dieses Herumrühren ... ja, ist das ein Ablenkungsmanöver? Ust das ein Verwirrspiel? Oder bedeutet es höchste Konzentration von Seiten Johns? Ich weiß nur: Es bedeutet nicht, dass er Milch oder Zucker herumrühren würde.
"Ok", beginnt er endlich. "Du erinnerst Dich an die Klientin, die sich schlagartig das Rauchen abgewöhnt hatte, nachdem sie das Rauchverlangen mit einem großen, gefährlichen Wolf verglichen hatte?"
"Ich erinnere mich, John, dass Du erzähltest, sie hätte damals diesen'Wolf' in ihrer Phantasie zu einem kleinen, niedlichen Wolfswelpen regredieren lassen, ihn dann in den Wald geschickt, wo er sich einem Rudel angeschlossen habe und verschwunden sei? Und diese Klientin habe seither nie wieder geraucht?"
"Ja, genau diese meine ich. Und sie ist ganz begeistert von ihrem Ergebnis und jetzt vermittelt sie mir immer wieder einmal weitere Klienten, die sich das Rauchen abgewöhnen wollen."
"Schön, John, schön für Deinen Geldbeutel und schön für diese Klienten. Die sind doch bestimmt schon gut vorkonditioniert!"
"Tja, das sollte man annehmen!" ... John nimmt seine Kaffeetasse und leert sie in einem Zug. Das habe ich bei ihm noch nie erlebt. Ich bin gespannt, bin immer mehr gespannt, was nun folgen wird.
Ich muss mich eine Ewigkeit gedulden, bis John einen weiteren Kaffee bestellt und serviert bekommt. Nicht ohne ein paar freundlich-anzügliche Bemerkungen mit der Wirtin auszutauschen. Sie grinst ihn an, meint, sie werde erst in einer halben Stunde abgelöst. Macht Anstalten, sich zu uns zu setzen, wendet sich dann aber einem anderen Gästepaar zu.
"Ja, diese überraschend erfolgreiche Klientin! Ich hätte es nie gedacht! Wenn ich vorher gewusst hätte, welche Psychopharmaka sie seit wie langer Zeit schon eingenommen hat, ich hätte mich nicht getraut, mit ihr irgend etwas wie Hypnose zu machen. Es war dann aber eine richtig tolle Überraschung mit ihrem Erfolg. Aber weißt Du was: Die von ihr später empfohlenen Klienten haben es samt und sonders nicht geschafft!?? Alle machten vom ersten Moment an einen reservierten, fast abweisenden Eindruck. Gut, einige davon waren auch nicht besonders motiviert...... Vielleicht hat die Wolfsfrau die alle mehr oder weniger überredet???"
Das kenne ich auch, überlege ich bei mir. Abenteuerliche Geschichten fallen mir ein.
John fährt fort: "Vor ein paar Wochen bat mich eine Anruferin dringend um eine gemeinsame Sitzung: sie selbst, ihre Mutter und auch ihr Ehemann wollten sich gemeinsam das Rauchen abgewöhnen. Die Wolfsfrau habe ihr von mir erzählt. Auch ihre Hausärztin sei richtig begeistert gewesen. Habe ihr mehrfach erklärt, bei mir sei sie in guten Händen. Ich zögerte sehr: Drei Klienten gleichzeitig! Eine große, anonyme Gruppe ist für mich - wie eine Einzelperson - kein Problem. Drei Personen aber, die miteinander verwandt sind, sich gegenseitig beobachten, mich gleichzeitig beobachten, das ist schwierig. Nun, es war nicht das erste mal und so ließ ich mich überreden. Die Anruferin und der Ehemann saßen zusammen auf einer Art Sofa, die Mutter auf einem Stuhl daneben. Ich erzählte ein wenig über mich, fragte danach jede Person einzeln nach ihrer Motivation, das Rauchen beenden zu wollen. Die Antworten bestanden nur aus Allgemeinplätzen. Alle drei hatten die Arme vor der Brust verschränkt, sahen konzentriert an mir vorbei. Um das Eis zu brechen, und eventuelle Ängste zu entschärfen, zeigte ich eine Schnellhypnose im Stehen. Der Ehemann war Versuchsperson und ließ sich freudig darauf ein."
John fährt fort:
"Anschließend versuchte ich von der Mutter zu erfahren, was das Rauchen für sie bedeutete und wie sie das Rauchverlangen wahrnehme. Sie überlegte, konnte nicht antworten, denn jetzt erklärte die Tochter ganz unvermittelt, sie werde gehen. Sie verließ den Raum, der Ehemann lächelte mich an, zuckte mit den Schultern. Die Mutter überlegte noch. Und schon klingelte es an der Tür, die Tochter kam wieder herein, setzte sich und hielt mir vor, sie habe geglaubt, ich werde alle drei Personen nacheinander "hinlegen und das Rauchen wegmachen". Sie stieß ihren Ehemann an, der nun mehrfach meinte, er fühle sich sehr an eine Therapeutische Gruppe erinnert. Nun stellte die Tochter klar, dass man jetzt gehe. Die Mutter schaute ausdruckslos an mir vorbei und ging mit den anderen zusammen zur Tür. Der Ehemann zahlte mein Honorar, seine Frau drehte sich an der Tür noch einmal um rief mir mit zitternder Stimme zu: Schöner Charlatan! Dann waren alle drei verschwunden."
"John, ich finde das mutig, dass Du mir das so erzählst!"
"Ach, weißt Du, eigentlich hätte ich wissen sollen, dass diese Konstellation nicht funktionieren würde. Als die Frau mich zum ersten mal anrief, erzählte sie mir gleich, wo überall sie sich über mich erkundigt hätte. Alle hätten mich in den höchsten Tönen gelobt. Spätestens hier hätte ich aufpassen müssen. Nun ja, ich bin auch nur ein Mensch und habe mich über diese positiven Rückmeldungen gefreut. Übrigens: Du hast mir einmal von Deinem Rausschmiss aus dem Psychoanalytischen Institut erzählt. Wie Du von zwei gestrengen Supervisoren geradezu verhört wurdest. Wie die beiden Dir bestätigten, du seiest ein sehr guter Tiefenpsychologischer Therapeut. Und wie dann der Rausschmiss folgte...."
"Ja, John, ... und das kam, weil ich ein paar mal aus Überzeugung erklärt hatte, dass nicht alle, die irgend ein Symptom haben, deswegen unbedingt fünf bis zehn Jahre lang Psychoanalyse brauchen, vier mal pro Woche und so....."
"An diese Geschichte musste ich denken. Und ich bin überzeugt, dass Du damals diesen Supervisoren einiges 'recht gemacht' hast. Du hast sie davon überzeugt, dass sie die reine Lehre der Psychoanalyse erfolgreich verteidigt haben. Egal, was Sigmund Freud dazu gesagt hätte! Sie konnten sich als Verteidiger des Glaubens fühlen! Das war Dein Verdienst!"
"John, ich verstehe den Zusammenhang nicht!"
"Macht nichts! Meine frustrierte Klientin hat mich zuerst überbewertet, dann maximal entwertet. Damit hat sie sich in meiner Gegenwart aufgewertet. Sie ist sicherlich überzeugt, dass sie ein schrecklich komplizierter Mensch ist, dem auch die besten Therapeuten nicht helfen können, bei dem auch die besten Therapeuten zum Charlatan werden. Ehemann und Mutter müssen sich, ob sie wollen oder nicht, mit ihr identifizieren. Und so habe ich ihr letztendlich doch etwas "recht gemacht". Na?!"
"John, kannst Du mir das, was Du meinst, verständlich erklären? So schön langsam, zum Mitschreiben?"
John hat sich wieder der Wirtin zugewandt - hatte ich gerade eine Halluzination oder hat sie ihm verstohlen den Rücken gestreichelt? Jetzt rühre ich verlegen in meiner Tasse herum.
"Also, John..." Weder von ihm noch von der Wirtin ist etwas zu sehen. Ein grinsender Kellner fragt, ob er die Kaffeetassen wegnehmen darf. John's Fahrrad ist doch noch immer draußen angekettet? Nein! Es ist verschwunden! Stand dort überhaupt ein Fahrrad?